Hattenhorst & von Elsner | Literaturgespräch

Thema: Wer regiert Europa? - Innenansichten der Macht

18. Juni 2021 | 80 Min.

Literaturgespräch mit Dr. Maik Hattenhorst und Dr. Tobias von Elsner.

Wer hat Angst vor deutscher Vorherrschaft? Hattenhorst und von Elsner diskutieren drei Bücher, in denen sich reale Akteure der Zeitgeschichte und erfundene Personen mit den Chancen einer dauerhaften Friedensordnung für ganz Europa auseinandersetzen.

Robert Harris, Vaterland, München 1994 (zuerst London 1992). – Der utopische Spannungsroman entfaltet das Szenario, Nazi-Deutschland hätte den Zweiten Weltkrieg nach gewonnenen Schlachten in der Sowjetunion siegreich beenden und Europa dauerhaft beherrschen können. Schauplatz ist Berlin, umgestaltet im Architekturstil nationalsozialistischen Größenwahns. Im April 1964 stimmt Goebbels Propaganda-Apparat die Bevölkerung auf die Feiern zum 75. „Führer-Geburtstag“ ein und feiert die Entspannungspolitik des Reiches vor dem angekündigten Staatsbesuch des amerikanischen Präsidenten. Den SS-Eliten ist es bis dahin gelungen, den Völkermord an den europäischen Juden totzuschweigen. Doch ein mysteriöser Todesfall am Wannseeufer lässt Kriminalkommissar Xaver March keine Ruhe, und er kommt dem ungeheuren Menschheitsverbrechen auf die Spur. – Harris‘ Buch reibt dem Leser ex negativo unter die Nase: Zum Glück verlor Deutschland den Zweiten Weltkrieg und multinationale Verträge und Institutionen sorgen für die Einhegung deutscher Hegemonie.
Robert Menasse, Die Hauptstadt, Berlin 2017. – Menasses preisgekrönter Roman beschwört noch einmal den Ausgangspunkt der europäischen Länder für ihr Engagement, ein gemeinsames europäisches Haus zu errichten. Doch der Gründungsmythos ist verblasst. Vergeblich bemüht sich der Referent im Bereich Kultur, Martin Susmann, anlässlich des 60. Jahrestages eine große Feier in Auschwitz zu organisieren, um diesen historischen Auftrag für neuen politischen Schwung zu nutzen. In parallelen Geschichten erfahren wir, wie einer der letzten Überlebenden der Vernichtungslager wegen einer Demenz nicht mehr als Zeitzeuge eingeplant werden kann, wie EU-Beamte aus politischen Gründen die Aufklärung eines Mordes sabotieren oder die Schweinezucht als profitträchtigen Bestandteil der industriellen Agrarproduktion fördern. Ein emeritierter Wirtschaftsprofessor muss erkennen, dass seine Expertise von den smarten Newcomern in dem von der Kommission eingesetzten Thinktank, der Reformvorschläge zur Überwindung der Krise der Europäischen Union machen soll, ignoriert wird. Auch Susmans Vorgesetzte, Fenia Xenopoulou, rückt aus Karrieregründen von einer großen Feier des Gründungsjubiläums in Auschwitz ab. Das Ränkespiel der Karrieristen wird am Ende von einem Terroranschlag auf die Brüsseler U-Bahn unterbrochen, dem einige der Akteure zum Opfer fallen.
Martin Sonneborn, Sonneborn geht nach Brüssel – Abenteuer im Europaparlament, Köln 2019. – Sonneborns Buch berichtet chronologisch über Erlebnisse aus seiner Zeit als Abgeordneter des Europäischen Parlaments in Brüssel von 2014 bis 2018. Dabei mischt er persönliche Notizen mit Nachrichten aus der digitalen Kakophonie der Nachrichtendienste und sozialen Medien zu einem skurrilen Bild von der Welt. Seine Art der Realsatire nutzt sich über 420 Seiten etwas ab und nicht jeder hat Lust auf bloßen Blödsinn à la Titanic. Gleichwohl machen seine Begegnungen mit den Außenseitern im Europäischen Parlament Lust auf multikulturelle europäische Vielfalt. Manche Identität ist kaum verschleiert hinter sprechenden Namen – Manfred Streber, Beatrix von Strolch oder Elmar Brocken – und die Absurdität von Dialogen und Reden vermischt sich mit beißender Gesellschaftskritik.

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