Hattenhorst & von Elsner | Literaturgespräch

Thema: Im Westen das Glück finden? | Erzählungen von Flucht, Neuanfängen und langen Schatten der Vergangenheit

4. September 2025 | 60 Min. | Sendereihe: Hattenhorst & von Elsner - Das Literaturgespräch

Zwei Romane, die von der Flucht aus der DDR in die Bundesrepublik erzählen: Aus der Sicht des nun erwachsenen Kindes berichten sie in der Rückschau vom Ankommen, Fuß fassen und fremdbleiben. Das gelebte Leben im Osten bleibt auch nach Jahrzehnten eine – manchmal verdrängte – Unterströmung im westdeutschen Alltag. Hattenhorst und von Elsner diskutieren die unterschiedlichen Motive der Familien.

Gert Loschütz, Ein schönes Paar, Frankfurt/Main 2018

Nach dem Tod seines Vaters Georg Ende der 1990er Jahre entdeckt das Erzähler-Ich Philipp Karst bei der Haushaltsauflösung ein Geheimnis seiner Eltern. Sie waren bis zu ihrer Flucht 1957 aus der DDR in Plothow – in der „Kanalstadt“, die leicht als Genthin am Elbe-Havel-Kanal identifiziert werden kann – „ein schönes Paar“ gewesen. Aber bald nach der Übersiedlung in den Westen haben sie sich getrennt. Blieben sie weiterhin in Verbindung? Der Sohn, von Beruf Fotograf, sichtet die alten Notizkladden seines Vaters Georg Karst, sucht nach Briefen und Postkarten, und das Leben seiner Eltern gewinnt Kontur wie auf historischen Fotografien. Eigentlich scheint ihr Leben vom Glück begünstigt, sie überleben den Krieg, bekommen 1946 einen Sohn und Georg steigt auf zum Direktor des Brandenburger Stahlwerks. Sorgen bleiben – er fürchtet die Parteileitung in Berlin, die ihn zum Sündenbock machen könnte, wenn Planziele nicht erreicht werden. Unbedacht folgt er der Einladung eines Freundes aus Soldatenzeiten nach Hannover, lässt sich auf ein Anwerbungsgespräch für die Bundeswehr ein. Er lehnt ab und fährt zurück in seinen Plothower Alltag. Doch als er einen Brief aus Bonn mit dem Absender „Der Bundesminister für Verteidigung“ erhält, hat auch seine Frau Hertha Angst um Georg. Sie hilft ihm bei der sofortigen Flucht.

Constanze Neumann, Das Jahr ohne Sommer, Berlin 2024

Während Loschütz bildhaft schildert, wie die Zeitumstände den verunsicherten und entscheidungsschwachen Vater in die Defensive gedrängt haben, berichtet Constanze Neumann, wie ihr Vater die traditionelle Rolle des Familienoberhauptes verkörpert hat: Der Leipziger Pianist, Musikwissenschaftler und Hochschuldozent bestimmt über die Zukunft der Familie im Westen. Aus der Sicht des Vorschulkindes, der 1973 geborenen Constanze Neumann, rissen die Eltern an ihrem Leben, „dass sie so nicht wollten, nicht so, nicht hier.“ Die Flucht im Februar 1977 misslingt, die Eltern kommen ins Gefängnis und werden erst im Herbst 1978 freigekauft. Constanze wird in ein Kinderheim gebracht, darf dann bei ihrer Leipziger Oma wohnen und kann endlich im März 1979 zu ihren Eltern in den Westen ausreisen. Der dominante, forciert optimistische Vater bewährt sich als Direktor der Musikschule in Aachen und preist das gelingende Leben im Westen. Er kritisiert selbstbewusst die rheinländische Laissez-faire-Mentalität und macht sich lustig über Biokost und Schlabberlook. Doch bei der jungen Mutter hat die Haft zu einer schweren chronischen Erkrankung geführt, die eine Karriere der hochbegabten Geigerin als Solistin unmöglich macht. Die heranwachsende Constanze erlebt mit, wie ihre Mutter in eine schwere Depression verfällt, wie bei Familientreffen weiter nur über Leipzig, über zurückgebliebene Freunde und Straßen und Orte des Lebens im Osten geredet wird. Sie selbst wechselt scheinbar spielerisch zwischen Ost- und Westerfahrungen und lebt in ihrer Phantasiewelt.

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