Hattenhorst & von Elsner | Literaturgespräch
Thema: Flüchten oder Anpassung
Flüchten oder Anpassung?
Über die Freiheit der Filmkunst im 20. Jahrhundert
Schauspieler und Regisseure standen bei der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten vor lebenswichtigen Fragen: Sollten sie vor der NS-Diktatur ins Exil flüchten und auf eine neue Karriere in Amerika hoffen? Oder könnten sie Freiräume scheinbar unpolitischer Unterhaltung für künstlerisch gelungene Filme der Ufa nutzen? Würden sie am Ende nicht doch zum willfährigen Werkzeug der Nazi-Kulturindustrie? Und wären sie in Hollywood nicht ganz anderen Zwängen ausgesetzt, müssten nach den Vorgaben der Studio-Bosse auf maximale Einspielergebnisse getrimmte Herz-Schmerz- und Heldengeschichten realisieren, über die dann auch noch die Zensur puritanischer Sittenwächter wacht?
Hattenhorst und von Elsner diskutieren zwei Bücher, die beispielhaft die unterschiedlichen Lebenswege von Künstlern beleuchten, die in den 1920er Jahren ihre ersten großen Erfolge feierten.
Daniel Kehlmann, Lichtspiel, Hamburg 2023
Am Anfang und am Ende seines Romans erzählt der Autor gleichsam von der Seitenlinie, wie sich der mittlerweile halbdemente Kamera-Assistent Franz Wilzek an seinen Lehrmeister, den österreichischen Regisseur Georg Wilhelm Pabst, erinnert. Eingeladen zur Aufzeichnung des Unterhaltungsmagazins „Was gibt es Neues am Sonntag“ fragt ihn der Moderator, warum Pabst 1939 zurückgekommen sei. ,Er war schon in Amerika. Und dann war er wieder hier und drehte Filme für …“ Der Moderator lässt den Satz unvollendet, mag nicht sagen „für die Nazis“ oder „für Goebbels Propaganda-Ministerium“. Kehlmanns Roman entfaltet die offenbleibende Antwort in allen Facetten. Wir erkennen die Persönlichkeit eines Mannes, der im Filmbetrieb Hollywoods erfolglos blieb, mit seinen schlechten Englischkenntnissen haderte und der seinen Blick auf die Welt als Film und Vorstellung unbedingt in großen Kinodramen verwirklichen wollte. Kehlmann zeigt die konkrete Lebenswelt des humanistisch gesinnten Filmkünstlers in der inneren Emigration und schildert zugleich, wie Willkürherrschaft und Lust an der Gewalt jegliches Mitgefühl erstickt und die Wahrnehmung deformiert haben.
Angela Steidele, Ins Dunkel, Berlin 2025
Wir sind umstandslos eingeladen, gleichsam wie im Kino der frühen Blütezeit den bewegten Bildern in den 1920er Jahren in Berlin und dann in Hollywood Anfang der 1930er Jahre zuzuschauen. Wie im Kino folgen wir einer „schlaksigen Gestalt“, die 1969 im verschneiten Klosters in der Schweiz den stecken gebliebenen Ford Mustang von Erika Mann und ihrer Lebensgefährtin Signe von Scanzoni wieder in Fahrt bringt, so wie einst die junge Garbo in der Anfangsszene ihres Kassenschlagers „Königin Christine“ als „schlaksige Gestalt“ in Jagdkleidung eine Kutsche aus einer Schneewehe herauslotste. Im Wechselspiel der Orte, hauptsächlich zwischen Berlin und Los Angeles, entspinnt sich der Reigen der Schauspielerinnen, Regisseure, Autoren und anderen Künstlerinnen; ein Teil von ihnen trifft sich 1969 in Klosters bei Davos wieder und hält Rückschau. Wir sind dabei, wie es sich zugetragen haben könnte, als die 19-jährige Greta Garbo mit ihrem Regisseur Mauritz Stiller im „queeren“ Tanzlokal Silhouette 1924 den Premierenerfolg von Gösta Berling feierte, Klaus und Erika Mann kennenlernte, Marlene Dietrich sich hinzugesellte und die skandalumwitterte Tänzerin Anita Berber ihren Auftritt hatte. Die Autorin entfaltet heiter und humorvoll ihr Spiel mit den Möglichkeiten des Menschseins. Die Nazi-Zeit wird dabei nur umkreist; die mörderische Machtausübung des Faschismus bleibt ein blinder Fleck.