Hattenhorst & von Elsner | Literaturgespräch

Thema: Gesellschaftliche Blasen

2. Dezember 2021 | 65 Min. | Sendereihe: Hattenhorst & von Elsner - Das Literaturgespräch

Die sozialen Medien bieten scheinbar jedem Menschen im World Wide Web sein virtuelles Wohlfühl-Biotop. Hattenhorst und von Elsner, sprechen über „analoge Blasen“, über Milieus, die bis zum Mauerfall 1989 eine sehr spezielle Alltagskultur auszeichnete oder die nach der deutschen Vereinigung neu aufgestellt waren für ein zufriedenes Leben auf dem Land.

Uwe Tellkamp, Der Turm, Berlin 2008 – Der Leser taucht ein in eine Welt von gestern, schwimmt mit im mäandernden poetischen Stil des Autors, und schaut auf das Leben im Dresdner Villenviertel Weißer Hirsch über der Elbe von 1982 bis 1989. Ärzte, Ingenieure oder Geisteswissenschaftler und ihre Familien teilen sich als Mietparteien die herrschaftlichen Häuser aus der Gründerzeit. Sie scheinen in jener untergegangenen bürgerlichen Kultur von damals zu leben, die es in der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ der DDR gar nicht geben dürfte. Inmitten des allgegenwärtigen Verfalls, den die Improvisationskunst der Bewohner nur mühsam aufhalten kann, und umgeben von den Rauchschwaden aus den Kaminen der Häuser, Kraftwerke und Chemiebetriebe und angesichts der rettungslos verseuchten Elbe gilt die Wertschätzung zuallererst den schönen Künsten, der Musik, Bildern und Büchern. Doch der SED-Obrigkeitsstaat stört die Idylle. Oberarzt Hoffmann hat eine heimliche Geliebte und wird erpressbar für die Stasi, sein Sohn Christian muss zur Absicherung seines Medizinstudium-Wunsches durch die Hölle einer dreijährigen Ausbildung zum Panzerkommandanten bei der NVA und Lektor Rohde ist gezwungen, mit verdienten Staatspreisträgern die angeordnete Zensur ihrer Manuskripte zu verhandeln.

Sven Regener, Herr Lehmann, Berlin 2001 – Wir begleiten Frank Lehmann von Anfang September bis zum 9. November 1989 auf seinen Wegen durch Kreuzberg in Westberlin. Eigentlich dürfen wir uns ihn als einen glücklichen Menschen vorstellen. Er arbeitet gerne als Bierzapfer in der Kneipe „Einfall“, bedient behände und kommunikativ die Stammgäste und Szenegänger, verbringt die freien Nachmittage schmökernd auf seinem Bett und ist auf einer Wellenlänge mit den Typen eines unkonventionellen Künstlertums, das sich selbst genug ist. Während Herr Lehmann an seinem so angenehm stillstehenden Boheme-Leben festhalten will, verändern sich die Menschen um ihn herum, fordern ihn zum Handeln heraus.

Juli Zeh, Unterleuten, München 2016 – Das brandenburgische Dorf Unterleuten hat den einschneidenden Strukturwandel der 1990-er Jahre glimpflich überstanden. Der erfahrene Landwirt Rudolf Gombrowski hat die LPG schon zu DDR-Zeiten geleitet, erfolgreich die Privatisierung des Agrarbetriebes als Ökologica GmbH gemanagt und als deren Geschäftsführer viele Arbeitsplätze im Dorf erhalten. Die vermeintliche ländliche Idylle hat neue Einwohner aus der nicht weit entfernten Metropole Berlin angezogen, wie die junge Pferdetrainerin Linda Franzen, die eine eigene Pferdezucht plant oder den Soziologie-Professor Gerhard Fließ, der hier mit seiner jungen Frau und Baby einen Neuanfang probiert. Doch gleich zu Beginn des Romans ist die Dorfwelt gründlich aus den Fugen geraten. Die Ökologica steht durch die Bodenspekulation auf Agrarland unter wirtschaftlichem Druck. Rettung verspricht der Bau von Windkraftanlagen, die Gegner formieren sich, sehen das friedliche Landleben bedroht. Allianzen werden geschmiedet, alte Feindschaften aus der Zeit der Kollektivierung der Landwirtschaft kochen hoch. Wie in einer systematischen Versuchsanordnung hält die Autorin in ihrem Thriller alle Erzählfäden in der Hand bis zum Showdown.

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