Hattenhorst & von Elsner | Literaturgespräch

Meinungsfreiheit zwischen Hetze und Moral

5. Juni 2025 | 60 Min.

Meinungsfreiheit zwischen Hetze und Moral

Gedruckte Zeitungen verschwinden, viele Menschen ersetzen die Schriftsprache in ihren Kurznachrichten per Handy durch abgekürzte Mitteilungen. Führt der Verzicht auf eine abwägende Argumentation zugunsten einer raschen moralischen Parteiname zu einer immer kürzeren Zündschnur bei den Lesern? Verengt sich unsere Fähigkeit zu Toleranz und Einfühlung, weil wir nur noch unsere eigene Lebenswelt als die richtige gelten lassen?

Hattenhorst und von Elsner diskutieren die Thesen über den Wandel der Streitkultur hin zum Meinungskrieg anhand zweier Gesellschaftsromane, die die Folgen von kurzatmigen Wellen der Empörung für den professionellen Journalismus und den privaten Bereich veranschaulichen.

Simon Urban, Juli Zeh, Zwischen Welten, München 2023

Die beiden Hauptpersonen, Stefan und Theresa, lebten während ihres Germanistikstudiums in einer freundschaftlichen Wohngemeinschaft, verloren sich aus den Augen und treffen sich zufällig zwanzig Jahre später in Hamburg wieder. Zunächst begeistert über das Wiedersehen, prallen beim Erzählen die Gegensätze aufeinander: Theresa hat ihr Studium abgebrochen, um den väterlichen Milchviehbetrieb in der brandenburgischen Provinz zu übernehmen, Stefan ist aufgestiegen zum stellvertretenden Chefredakteur einer großen Hamburger Wochenzeitung, die hier DER BOTE heißt. Während Theresa mit niedrigen Erzeugerpreisen, Personalproblemen und dem Hin und Her der Energiewende kämpft sowie eine „unfassbare Bürokratie“ und spekulative Landkäufe von Kapitalgesellschaften beklagt, fühlt sich Stefan als unbestechlicher Anwalt des Klimaschutzes, der Gendergerechtigkeit und einer besonderen Sensibilität gegenüber allen Formen gesellschaftlicher Benachteiligung. Wie in einem Briefroman folgen wir dem Austausch von WhatsApp Nachrichten und längeren Mails, die immer wieder in wütende gegenseitige Zurechtweisungen münden. Dabei erweist sich der scheinbar radikale Stefan als anpassungsfähiger Mitarbeiter bei dem Projekt, den BOTEN mit einem „Relaunch“ der veränderten Medienwelt anzupassen. Theresa verliert dagegen den Glauben an legale Protestaktionen und lässt sich auf kriminelle Kampagnen rebellierender Landwirte ein.

Antje Rávik Strubel, Der Einfluss der Fasane, Frankfurt/Main 2025

Die Autorin berichtet von einem Ereignis, das das Leben der Hauptfigur, Hella Renata Karl, einschneidend verändern wird: Der Intendant eines Berliner Mehrspartentheaters und Ehemann einer berühmten deutschen Opernsängerin, Kai Hochwerth, hat sich im Gebäude der Sidney Opera das Leben genommen. Hella Karl erfährt davon, als sie frühmorgens einen Blick auf die Zeitung wirft. Sie ist die Leiterin des Feuilletons einer liberalen Berliner Tageszeitung, die hier ABENDPOST heißt, und verfasste eine dreispaltige Enthüllungsstory über den Platzhirsch der Berliner Kulturszene. Titel: „Intendant zwingt Schauspielerin zur Abtreibung“. Damit löste sie eine Kampagne in den sozialen Netzwerken gegen den Theatermann aus, die sich nun gegen sie selbst, die mutmaßlich Schuldige am Suizid, kehren könnte. Aber Hella Karl ist stolz auf ihre selbstbewusste Autonomie und ihr Durchsetzungsvermögen; sie ist überzeugt, dass sie sich auf ihre rationale Kompetenz und die Einsicht in die eigene Psyche verlassen kann. Gleichwohl schleicht sich Verunsicherung in Hella Karls Leben. Sie entfremdet sich von ihrem Lebensgefährten, das Gesicht des toten Intendanten erscheint ihr als Widergänger im Badezimmerspiegel. Aber können ihr Artikel und der anschließende Shitstorm einen solchen Typen wirklich zur Selbsttötung veranlassen? Hella hat plötzlich noch eine andere Idee.

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